Sung-dam HONG


Erläuterungen
Goldene Zeit
Der Titel »Golden Time« ist nach einer bekannten TV-Arzt-Serie gewählt worden. Als 2011 Park Geun-hye, die Tochter des ehemaligen Diktators Park Chung-Hee, von der konservativen Partei »Saenuri« als Präsidentschaftskandidatin nominiert wurde, drückte Hong mit »Golden Time« seine Befürchtung aus, dass bei ihrem Wahlsieg Machtzirkel aus der Zeit der Militärdiktatur wieder Einfluss gewinnen könnten. Man sieht auf dem Bild die Figur der Park Geun-hye ihren Vater gebären – als Baby mit Sonnenbrille. Die Hauptfigur der TV-Serie erhebt dazu eine Hand zum militärischen Gruß. Die Wahlkommission verklagte Hong Sung-dam wegen Beleidigung und Verleumdung Park Geun-hyes; zog die Klage jedoch bald wieder zurück.
Bariquand I [Haarschneider]
Der Haarschneider wird in Südkorea Bariquand [ausgesprochen dort als Barikang] genannt, weil während der japanischen Kolonialzeit um 1940 ein französischer Haarschneider Marke Bariquand & Mare auf dem koreanischen Markt eingeführt worden war. Der Bariquand symbolisiert hier Militarismus, weil Rekruten nach Einziehung zum Wehrdienst kurz geschoren werden. Auf dem Stuhl sehen wir die heutige Präsidentin, Park Geun-hye den Erfolgssong Gangnam Style hinter dem Galgen tanzen. Links neben dem Stuhl tanzt ihr Vater, Park Chung-Hee, mit schwarzer Sonnenbrille. Uniforme Hintermänner haben die Fäden in der Hand; lassen also Park Geun-hye für die in Südkorea noch existierende Todesstrafe tanzen.
Erläuterungen
Sewol Owol
Mit der Wortmontage Sewol Owol [Sewol Mai] bezieht sich der Künstler auf zwei Ereignisse - das Unglück der Personenfähre »Sewol« am 16.April 2014 und das Massaker in Gwangju am 18. Mai 1980.
Hong sieht das Unglück der »Sewol«, bei dem 304 Menschen, meist Schüler_innen, ums Leben kamen, durch eine politische Kultur ermöglicht, die aus der Zeit der Militärdiktatur stammt. Links oben wird Park Guen-hye, die heutige Präsidentin von Südkorea, als Strohpuppe dargestellt, die von ihrem Vater, dem früheren Militärdiktator, bewegt wird. Die Figur des Diktators in Militäruniform und mit Sonnenbrille ist bei Hong ein wiederkehrendes Motiv. In den Männerfiguren im Hintergrund werden einflussreiche Konzernchefs und Politiker angedeutet. Links unten sind politisch Ultrarechte dabei, ein Porträt des nordkoreanischen Führer Kim Jong-Un zu verbrennen. Rechts oben wird die Geschichtspolitik Japans im Besuch des Yasukuni-Schreins durch den japanischen Premier Shinzo Abe thematisiert. Rechts unten wird das »Vier-Flüsse-Projekt« des vorigen südkoreanischen Präsidenten, Lee Myung-bak, dargestellt, das weiträumige Naturzerstörung für die Erzielung wirtschaftlichen Gewinns erlaubte. In der Mitte wird der Wille des einfachen Volkes als Geist des Widerstands von Gwangju gezeigt. Hong orientierte sich hier an Stilformen der koreanischen Volkskunst und der buddhistischen Tradition, entwickelte weiter eine neue Form Geolgae Gurim (Hängebilder), zuletzt darin, dass das Werk in der Öffentlichkeit als Gemeinschaftsproduktion hergestellt wurde.
Wegen der Darstellung von Park Geun-hye als Strohpuppe wurde das Werk von der 20. Gwangju Biennale 2014 entfernt. Es kann nun auch in Berlin nicht gezeigt werden, weil sich die beauftragte südkoreanische Kunstspedition einen Tag vor dem Abtransport weigerte, das Bild nach Deutschland zu transportieren. Die Spedition fürchtet um ihren Ruf in Südkorea. Hühnerkopf [Dummkopf]
Wegen der Darstellung der Präsidentin als Vogelscheuche oder Strohpuppe durfte das Werk Sewol Owol nicht ausgestellt werden. Daraufhin machte Hong Sung-dam den Vorschlag, über die Figur Park Geun-hyes das Huhn zu kleben, um das Gesicht zu verdecken. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen und Sewol Owol blieb von der Ausstellung ausgeschlossen. Ein Hühnerkopf steht in Korea für ‚Dummkopf‘. Nun ist der Hühnerkopf ein Symbol für Park Gyeun-hye geworden.
Hanami [Kirschblütenfest]
Das Wort Hanami heißt auf Japanisch die Kirschblütenschau. Hong Sung-dam stellt mit Japans Nationalsymbol der Kirschblüte die Verbindung zur pro-japanischen Vergangenheit von Park Chung-Hee, dem Ex-Diktator, her, die lange Zeit verheimlicht wurde. Die derzeitige Präsidentin Park Geun-hye ist von hinten zu sehen. Sie hat die gleiche Frisur wie die von ihrer Mutter Yuk Young-Su, die angelblich von einem Nordkorea nahen Japan-Koreaner erschossen wurde. Sie führt ihren Vater als Kind im Militäranzug an der Hand. Zwischen den nebulösen Kirschbäumen verbergen sich die Männer vom Geheimdienst.


Hong Sung-dam – geboren 1955 auf der Insel Hauido, aufgewachsen in Gwangju und ausgebildet an der Chosun Universität Gwangju – ist ein südkoreanischer Künstler, der 1980 am Aufstand gegen Chun Doo-hwans Militärdiktatur teilnahm. Nach dem Aufstand wurde er politisch aktiv und im Juli 1989 verhaftet, weil er angeblich das nationale Sicherheitsgesetz verletzt hatte (er hatte Abbildungen eines mit 200 anderen südkoreanischen Künstlern geschaffenen Wandbildes nach Nordkorea geschickt). Amnesty International erkannte ihn als politischen Häftling an und setzte sich für seine Freilassung ein, die schließlich in den frühen 1990ern erreicht wurde. Er ist ein hochgeachtetes Mitglied der Minjung-Bewegung und erhielt schließlich 1996, nach tiefgreifenden politischen Veränderungen, von der südkoreanischen Regierung den Auftrag für ein 42 Meter langes Wandbild für die Chonnam National University.
Seine Werke wurden an verschiedenen Orten gezeigt, wie am Gana Art Centre Seoul; am Queens Museum of Art, New York; am National Museum of Contemporary Art, Sri Lanka; der Gallery of Modern Art, Glasgow; dem National Museum of Prints, Spanien; der Busan Biennale; der 1st and 3rd Gwangju Biennale; dem International Peace Centre, Osaka und – zum 50th Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – bei Amnesty International in Großbritannien. Er lebt und arbeitet heute in Ansan, Südkorea.



Die Kunst des ostasiatischen Realismus – ein Ring, der drei Inseln verbindet

Hong Sung-dam

Das Ende des Asien-Pazifik-Kriegs (1937-1945) führte dazu, dass ein ›Gast‹ namens USA die Gelegenheit bekam, sich als Hausherr Ostasiens aufzuspielen. Ausgehend von Militärstützpunkten auf drei Inseln errichtete dieser ›Gast‹ ein umfassendes Kontroll- und Verwaltungssystem. Diese drei wunderschönen, aber zutiefst traurigen Inseln heißen Jeju (eine Insel des geteilten Korea), Taiwan und Okinawa (Japan). Es nicht übertrieben, zu sagen, sie seien in ihrer gegenwärtigen Verfassung wie Drillinge, die durch ein Monster namens Asien-Pazifik-Krieg geboren wurden. Vermutlich wird in Ostasien niemand glauben, die Teilung Koreas könne überwunden werden, ohne die Konflikte auf Taiwan und Okinawa zu lösen; ebenso wenig, die Probleme dieser beiden Inseln wären zu bewältigen, ohne dass die Teilung Koreas überwunden wird. Die grundlegende Lösung vieler Probleme Ostasiens läge in der gleichzeitigen Klärung der Konflikte auf allen drei Inseln; erst dann könnte die wahre Befreiung vom Trauma der leidvollen Geschichte und des gegenwärtigen schäbigen Staatsystems erreicht und die Schönheit des Lebens und die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte wieder erlangt werden.

Die komplizierte moderne Geschichte Taiwans zeigt sich im historischen Ereignis des 228-Massakers1 wie in einem Brennglas. Der gewalttätige Angriff eines Beamten des Kuomintang-Regimes auf eine Zigarettenhändlerin löste am 28. Februar 1947 einen Aufstand aus, der blutig niedergeschlagen wurde. Der Künstler Huang Jung-tsan (黃榮璨)2 fertigte unmittelbar nach den Ereignissen einen Holzschnitt von der Schlüsselszene an, der schnell in allen Städten Taiwans Verbreitung fand. Huang Jung-tsan hatte an der Schule für Druckkunst Lu Xun (鲁迅)3 Holzschnitt studiert und später einen Buchladen vor der Taipeh-Universität eröffnet. Er nahm selbst an vielen Ausstellungen für Druckkunst teil, unterrichtete junge Künstlerkollegen in Zeichnen und Geschichte und er machte die Holzschnitte von Käthe Kollwitz in Taiwan bekannt. In seinen Holzschnitten passte er die Tradition der Schule »Lu Xun« für die revolutionäre Druckkunst dem taiwanesischen Geschmack an, so dass die Strich- und Linienführungen noch gewagter und feiner wurden. Indem seine Kunst auf diese Art und Weise in einen anderen Stil überging, spiegelte sie die bedrohliche Stimmung während des Massakers am 28. Februar 1947 sehr gut wider.4 Die Skizzen und Holzschnitte des Künstlers vermitteln uns eine Ahnung davon, wie stark sein Interesse für und seine Liebe zu den Ureinwohnern Taiwans war. Anhand der wenigen Notizen, die er hinterließ, wird deutlich, mit welch großem Engagement er sich der Kultur und Kunst sowie den Bräuchen dieser Menschen widmete.

Heute können wir seine Spuren, die beinahe für immer verschollen wären, nur noch anhand weniger erhaltener Werke mühselig rekonstruieren, denn er wurde während der Niederschlagung des Aufstandes zusammen mit seiner Freundin festgenommen und wie viele andere in ein Taipeher Gefängnis gesperrt. In einer dunklen, regnerischen Nacht wurde er dann zusammen mit zehn anderen auf dem Viehmarkt am Fluss erschossen; in der folgenden Nacht auch seine Freundin.

Auf Jeju, rund 85 km südlich der koreanischen Küste gelegen, kam es am 3. April 1948 zu einem angeblich kommunistischen Aufstand. Nach der Befreiung von der japanischen Besatzung wurden die separate Wahlen im Süden Koreas von den USA lanciert, was zum Auslöser einer Rebellion wurde, der sich Tausende Bauern anschlossen.5 Was folgte, ist ohne Beispiel in der Nachkriegsgeschichte. Über die Bevölkerung wurde ein barbarisches Strafgericht verhängt. Polizei und Armee schlugen unter Aufsicht der damaligen US-Militärregierung die Erhebung mit Waffengewalt nieder, etwa 30.000 Menschen wurden ermordet oder verschwanden, was einem Viertel der Bewohner der Insel Jejus entsprach. Diese Tragödie kündigte den Koreakrieg (1950-1953) an, der die Teilung Koreas zementierte. Mit ihr aber entstand eine unerträgliche Lage für die Bewohner_innen Jejus. Nun war die Erwähnung des Massakers verboten und eine denunzierende Deutung autoritativ verordnet. Mehr als 50 Jahre lang lebten die Bewohner_innen Jejus mit dem Gefühl, als sei das Wort ›Roter‹ in scharlachroten Buchstaben in ihre Körper und Seelen eingraviert. Viele der überlebenden Familienangehörigen verließen ihre Heimat, um dieser Stigmatisierung zu entgehen; sie lebten überall zerstreut, manche emigrierten illegal nach Japan und bildeten dort einen Zweig der koreanischen Diaspora.

Erst am 31. Oktober 2003 erkannte der damalige Präsident Roh Moo-hyun, auf Vorschlag einer nach 1999 gegründeten »Wahrheitskommission«6, an, dass der Konfrontation zwi-
schen den aufständischen Insulanern und Armee, Polizei und Paramilitärs zehntausende Menschen zum Opfer gefallen waren. Er entschuldigte sich bei den Hinterbliebenen und den Bewohnern der Insel. Bis zur offiziellen Entschuldigung der Regierung gab es zähe Kämpfe um die Wahrheit über das Massaker am 3. April 1948 und die Zeit danach.

Am Ende der 70er Jahre war eine politische Bewegung der Minjung – »Volk« bzw. »die Masse« entstanden, die sich auch zu einer Kunstbewegung entwickelte, die eine Tradition erzählerischer, figurativer Bildsprache mit deutlichen politischen Botschaften begründete. Die unnachgiebigen Künstler_innen von Jeju brachten mit der Bewegung »Kunst für die wahre Geschichtsschreibung« eine nicht zu unterdrückende Energie in diese politisch und kulturell orientierte Bewegung. Viele Künstler_innen wurden wegen Verletzung des Nationalen Sicherheitsgesetzes gefoltert und als Spione Nordkoreas stigmatisiert und manche mussten viele Jahre ihres Lebens im Gefängnis verbringen, ehe die Demokratisierung schließlich sogar dazu führte, dass 1994 die Regierung offiziell eine Retrospektive der »Minjung«-Kunst zuließ.

Die Insel Okinawa war 1945 Schauplatz einer der großen Schlachten des Pazifikkrieges. Etwa 120.000 Menschen der einheimischen Bevölkerung, die am Krieg gänzlich unbeteiligt gewesen war, starben dabei auf grausame Weise. Im Sakima-Kunstmuseum in Ginowan befindet sich das Bild »Schlacht um Okinawa« des Ehepaares Iri und Toshi Maruki. Das Gemälde ist in einem hellen Blütenton grundiert, der den Optimismus, den Sinn für Träume, Liebe und Gemeinschaftssinn der Bewohner Okinawas symbolisiert. Auf dieser Grundlage wurden raue und trockene Striche (Galpil-Pinseltechnik) aus dicker Tusche, Holzkohle und Conté wiederholt aufgetragen. Verschlungene düstere Linien und Knäuel evozieren die Furcht vor einem grausamen Tod, dickflüssige Tusche breitet sich zäh über die ganze Bildfläche aus und dem schockierten Blick zeigen sich unzählige Leichen.

Die Künstler sind Vertreter der traditionellen japanischen Malerei. Aus der Tradition des Ukiyo-e (»Bilder der fließenden Welt«), das in der Edo-Zeit (1603-1868) entstanden war, und sowohl der polychrom-lebhaften wie der asketisch-feinsinnigen Tuschemalerei der älteren Tradition entwickelten sie einen Stil, der die grauenhafte historische Wahrheit zum Ausdruck zu bringen vermag, welche sich hinter dem rauen Wind und den herrlichen Landschaften Okinawas verbirgt. Dennoch lässt das Bild keineswegs den Keim der Hoffnung vermissen, der sich im Herzen jedes Bewohners von Okinawa verbirgt: Die Menschen können überleben, jedoch nur, wenn das Vergessen des Todes überwunden wird. Überall im Bild findet man Spuren der Zuversicht wie eingepflanzte Samen versteckt. Sie sind wie Gesten, die fälschlich beschuldigten Seelen, die auf ungerechte Weise elend und anonym sterben mussten, jede für sich einzeln liebevoll zu umarmen, ihren Groll zu lindern und zu trösten.

Die asiatische Minjung-Kunst hat ihren Namen in Korea bekommen, doch sehen wir an den hier geschilderten Beispielen, dass sie das künstlerische Bewusstsein auf allen drei Inseln bestimmt hat. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle Künstler/innen die Geschichte grausamer Kriegs- und Nachkriegs-Massaker mit ihren Folgen für die Überlebenden und die Kultur der Nachkriegszeit behandelten. In der Kunstgeschichte des Realismus gibt es wohl kaum ein vergleichbares Beispiel, historische Parallelerfahrungen gleich dreier verschiedener Länder geschildert zu finden. Wenn wir diese Bilder näher analysieren, sind stilistische Gemeinsamkeiten zu finden, die sie meiner Meinung nach von der westlichen Kunst stark unterscheiden:

Erstens: Die Hoffnung. Wie furchtbar die dargestellten Ereignisse auch sein mögen, die Bilder zeigen nicht ausschließlich Leid und Hoffnungslosigkeit. In einem der Teil des Bildes wird von der Hoffnung gesungen, davon, dass Leid und Verzweiflung überwunden werden, um in eine neue Welt aufzubrechen.

Zweitens: Die Künstler verharren nicht nur bei der Anklage gegen das Massaker als menschliches Verbrechen, sondern sie stellen die grundlegende Frage über das ›Mensch-Sein‹ und reflektieren sie.

Drittens: Diese Bilder flüstern uns heimlich eine Alternative zu, wie die grausame Geschichte überwunden werden kann: die ›Wiederbelebung des Geistes der Gemeinschaft‹.

Viertens: In den meisten Bilder wird stilistisch das Prinzip der Komplexität angewendet: Leben und Tod, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, Seele und Körper, Himmel, Erde und Meer, Hoffnung und Verzweiflung, Traurigkeit und Freude – alle diese gegensätzlichen Inhalte harmonieren auf einer Bildfläche. Das ist die ästhetische Haltung zu Menschen und Universum, welche die ostasiatische Tradition auszeichnet.

Fünftens: Die Künstler bleiben nicht bei der Anschuldigung und der Klage über den grausamen Tod stehen, sondern sie zeigen ihre ernste und erhabene Haltung, den Tod zu befrieden und die Seele zu besänftigen. Das heißt, sie vermeiden, abstrakte wie ästhetische Konzepte auffällig herauszustellen und die Kunst von der Realität zu entfremden bzw. die auf der Bildfläche dargestellten Gestalten durch Verspieltheit zur Absurdität zu degradieren.

Sechstens: Es gibt hier die kühne Weltanschauung, dass der Tod nicht die Welt des Nichts darstellt, sondern ein weiteres aktives Leben, welches mit einem neuen Leben schwanger geht: Unsere Leichen verfaulen unter der Erde zu Humus, lassen Samen keimen, die Stängel und die Blätter sprießen, schöne Blumen blühen; Bienen und Schmetterlinge kommen geflogen. Die Sonne, der Regen und der Wind werden gerufen; wenn die Blüten welken, tragen sie Früchte; wir, die Lebenden, essen diese Früchte – so gelangen die Seelen der Verstorbenen in unsere Körper und beginnen von Neuem zu leben. Das ist die Weltanschauung der Reinkarnation, die sich mit dem Tod versöhnt.
Ich sehe die Kunst auf den drei Inseln als einen Prozess auf der Suche nach Urform und Identität des Ostasiatischen Realismus. In den besprochenen Kunstwerken sind die wichtigsten Themen »Leben« und »Hoffnung«. Wie wir diese »Kunst des Lebens und der Hoffnung« weiter entwickeln und in die unruhige und schäbige Verfassung der Gegenwart wirken lassen, und ob diese Kunst als Haltung überleben wird, Wandel, Vergehen (相生 sangsaeng) und Koexistenz (共生 gongsaeng) darzustellen, wird nun in der Verantwortung der Künstler_innen stehen, die in der Gegenwart leben – und auch in Ihrer.

Alle Fußnoten sind Anmerkungen der Übersetzerin.

Der Vortrag wurde von Hong Sung- dam für das Symposium ›Die Haltung und der Aktivismus der südkoreanischen Minjung-Kunst‹ an der Internationalen Universität Okinawa im Mai 2014 verfasst.

Übersetzt aus dem Koreanischen von Han Nataly Jung-Hwa


1 Bis 1987 hinein durfte man über dieses Massaker nicht sprechen. Man schätzt, dass es 18.000 bis 28.000 Todesopfer gegeben hat. (http://asienspiegel.ch/2012/03/eine-unvergessene-tragodie/ )

2 Die genauen Lebensdaten des Künstlers konnten nicht erfasst werden.

3 Lu Xun (chinesisch 魯迅 / 鲁迅, Pinyin Lu Xùn) (1881-1936) war ein chinesischer Schriftsteller und Intellektueller der sich mit anderen Intellektuellen an der von der Beida (Peking-Universität) ausgehenden Bewegung des vierten Mai, der Baihua-Bewegung beteiligte, einer Reformbewegung für literarisches Genre und Stil.

4 In Taiwan hieß es damals: Nachdem die Hunde (=japanische Kolonialherren) weg waren, kamen die Schweine (= die Festland-Chinesen von der Partei Kuomintang, KMT)

5 Geplant war eine gemeinsame Wahl in Nord- und Südkorea. Die alleinige Wahl in Südkorea gilt als ein wichtiger Akt zur Teilung der koreanischen Halbinsel. Nordkorea rief fünf Monate später die eigene Republik aus.

6 Der vollständige Name des Komitees lautet: The National Committee for Investigation of the Truth about Jeju April 3 Incident



Sewol Owol1 - eine Schamanenzeremonie für die Kunst
Zwölf Anmerkungen zu Hong Sung-dam

Kim Jong-gil

1. Der Künstler Hong Sung-dam lebt fast ausschließlich für ein Symbol, für eine Erfahrung und einen Aufschrei: Owol Gwangju - Gwangju im Mai. Er ist der einzige Künstler, der sein ganzes Leben der Wirkung dieses Symbols, der Tiefe dieser Erfahrung und der Ästhetik dieses Aufschreis gewidmet hat. Nach dem Massaker von Gwangju, bei dem am 18. Mai 1980 zunächst friedliche Demonstrationen einer aufkommenden Demokratiebewegung blutig von der Regierung niedergeschlagen wurden, ließen sich viele Künstler_innen von den Wogen der Geschichte mitreißen, und gingen dann ihren eigenen Weg, indem sie eine Welt kaleidoskopischen Wandels auskosteten. Hong Sung-dam jedoch entwickelte aus Owol Gwangju ein künstlerisches Motiv, das er über viele Jahre hin entfaltete.

2. Seine Bilder sind stark geprägt von zwei Charakteristika2. Einerseits schafft er Weltlandschaften, in denen mittels Montage eine widersprüchliche und brodelnde Realität dargestellt wird. Damit soll aber nicht eine Dystopie in eine Utopie verwandelt werden wie etwa in den buddhistischen Darstellungen von Asura (阿修羅 - »Eine Welt endloser Kriege«), sondern in der disparaten Vermengung soll die wahre Natur unserer Welt erscheinen. Andererseits werden Allegorien von Personen eingesetzt, eine Ästhetik der Lebhaftigkeit zu realisieren. Diese Lebhaftigkeit ist nicht nur im üblichen Sinne Lust (heung), Eleganz (meot) und Freude (gamheung). Hier gibt es lebendige Götter, Spiritualität, Geister vom Himmel und von der Erde. Manche Bilder sind von Szenen des Tötens dominiert oder zeigen feuchtdüstere Landschaften, doch auch sie sind reich an Gesten der Belebung und zeigen die Empfängnis neuen Lebens. Solche malerischen Charakteristika ähneln den ästhetischen Konventionen der Bilder des Süßen Taus (甘露圖 Gamnodo), welche der Bulhoa (佛畵 Buddhistische Bildnisse) angehören.

3. Seine Malerei steht außerdem der Ästhetik der Geolgae-Gurim (걸개그림 Hängebilder) nahe. Ihre malerischen Konventionen gingen aus der Minjung-Kunst3 hervor und paraphrasieren die Gwaehoa (掛畵), die ebenfalls als »Bilder zum Aufhängen« bezeichnet werden. Gwaehoa sind große Bildnisse Buddhas, welche bei Zeremonien präsentiert werden, die unter freiem Himmel stattfinden. Geolgae-Gurim werden nicht zu religiösen Zwecken, sondern bei [politischen] Großveranstaltungen auf Höfen oder Plätzen gezeigt. Die Bildnisse Buddhas sollen religiösen Glauben inspirieren, Geolgae-Gurim aber sollen für eine reale Erlösung des Volkes und ein gemeinschaftliches Leben wirken. Daher sind Geolgae-Gurim stark verbunden mit der Gegenwart und Wirklichkeit, in der sie entstehen. Hong Sung-dams Bilder zeigen zeitgenössische Personen und Ereignisse, jedoch übernehmen sie dabei die Spiritualität der Gamnodo. Damit stellen sie eine Wiedergeburt der Buddhistischen Bildnisse der Minjung dar, weshalb ich seine Kunst als schamanistischen Realismus4 bezeichne. Er folgt der Ästhetik des Realismus und sieht dabei doch die Gegenwart mit den Augen eines Schamanen.

4. Sewol Owol ist das schöpferische Produkt einer schamanistischen Zeremonie. Im Juli 1980 hatten Hong Sung-dam und die Künstler_innen der Sigakmaeche yeonguhoe (»Forschungsgruppe für visuelle Medien«) an einem ruhigen Flussufer in Nampyeong bei Naju in der Provinz Süd-Jeolla mit einer Jinhon-gut begonnen, einer Schamanenzeremonie für die Toten, unter dem Titel Owol Gwangju. Die Arbeit an Sewol Owol ist gewissermaßen eine Fortsetzung von Owol Gwangju. Und so, wie diese Zeremonie ein aufregender Maskentanz ist, bei dem die Schamanen mit den Teilnehmern tanzen, soll ein Geolgae-Gurim nicht von den Künstler_innen allein, sondern gemeinsam mit allen Bürger_innen geschaffen werden.

5. Hong Sung-dam und seine alten Kollegen der Sigakmaeche yeonguhoe hatten seit Jahrzehnten das »kollektive Schaffen« als kreative Methode angewandt. Nun erweiterten sie diese Idee dadurch, dass sie versuchten, den gemeinsamen Geist durch »Malen der Geolgae-Gurim mit den Bürgern« fruchtbar zu machen, denn die Geolgae-Gurim sollten nicht in der Vergangenheit wurzeln, sondern in der aktuellen Wirklichkeit der Stadt Gwangju wiedergeboren werden. Das offene ästhetische Bewusstsein des Minjung sollte nicht den Künstlern vorbehalten bleiben, sondern nach dem Prinzip »Erst belebe ich mich, dann öffne ich alle« an Laien vermittelt werden.

6. Die Geolgae-Gurim sind aber auch in der Rezeption Aktionskunst, deshalb leben sie von Aktualität. Werden sie nicht öffentlich gezeigt, sind sie wie tot. Insbesondere geben sie ihre malerische Ästhetik nur vollkommen frei, wenn man ihnen auf offenen Plätzen begegnet. Sewol Owol wurde darum unter der Annahme geschaffen, dass es an der Außenfassade des Gwangju Museum of Art aufgehängt würde und so die gesamte Stadt zu einem »großen Platz« machte. Dadurch hätte es nicht nur seine ästhetische Lebendigkeit erlangt, sondern auch die Gemeinschaftlichkeit der »Beziehung zu Anderen« erwecken können. In der Folge hätte das Bild nicht nur das Museum, sondern ganz Gwangju zu einem Ort des Aufschreis gemacht, der in Asien und der ganzen Welt zu hören gewesen wäre. Wie durch morgendliches Glockenläuten hätte das Bewusstsein aller Geschöpfe der Welt erleuchtet werden sollen.

7. Sewol Owol konnte nicht auf der Sonderausstellung der Gwangju-Biennale ausgestellt werden. »Burning Down the House!«, das große Hauptthema der Biennale in Gwangju 2014, verkam zu grauer Asche und der Süße Tau, der seinen Namen dem Gamnodo verdankt, wurde staubtrocken. Nach dem Hinauswurf von Sewol Owol konnte kein anderes Werk seinen Platz einnehmen und den Erfolg der Veranstaltung retten. Wer behauptet, die Sewol Owol sei nicht gleichzusetzen mit Owol Gwangju und zugleich, die »Gwangju-Biennale« verkörpere auch ohne Sewol Owol den Geist Gwangjus, kann nicht mit wachem Geist urteilen!

8. Honoré Daumier hatte im Jahr 1839 sein Debüt als Zeichner für das Magazin »La Caricature« und machte sich im Folgenden einen Namen als Karikaturist. Doch ihm wurde vorgeworfen, mit seinen Werken den König zu missachten, woraufhin er eingesperrt wurde, und auch die Zeitschrift wurde bald darauf eingestellt. Dass nun im 21. Jahrhundert auch die satirischen Geolgae-Gurim eine schwere Zeit durchmachen, erinnert uns an den Fall Daumier.
Dies liegt daran, dass im quasi-kaiserlichen Präsidialsystem, welches die Wirklichkeit Südkoreas heutzutage bestimmt, die karikaturistische Darstellung der Präsidentin einer Majestätsbeleidigung nahekommt. Dass Sewol Owol die Präsidentin Park Geun-hye als Vogelscheuche zeigte, galt als unverzeihlich, aber auch als Hong diese Darstellung später durch ein rotes Huhn ersetzte, wurde das Bild nicht wieder aus­gestellt. Sewol Owol wurde damit zu dem Ereignis, das uns fragen lässt, was Ausdrucksfreiheit überhaupt sei und warum wir sie brauchen.

9. Erinnert man sich, dass die 1980er Jahre eine dunkle und undemokratische Zeit waren, in der die Militärdiktatur Park Chung-hees in das Militärregime Chun Doo-hwans überging und die künstlerisch inspirierte Ausdrucksfreiheit unterdrückt wurde, wirken die heute neuerlich aufkommenden Versuche, Kunst einzuschränken, bedrückend. Wir leben nicht mehr unter einem Militärregime und die Verhältnisse sind nicht so undemokratisch, dass sich eine oppositionelle Kunstbewegung bildet – dennoch aber sollen wir unsere von der Verfassung garantierte Ausdrucksfreiheit noch immer nicht ausleben können?

10. Kern des Problems ist die unverstandene Situation am Beginn des 21. Jahrhunderts: das Fortbestehen der demokratischen Diktatur, die aus dem Aufeinandertreffen einer geteilten Nation und einer politischen Ideologie entstanden war. Begann alles mit dem Waffenstillstandsabkommen am Ende des Koreakriegs im Jahr 1953? Nein, eigentlich begann es schon im Jahr 1948, als Korea in einen sozialistischen und einen demokratischen Staat geteilt und zwei Repu­bliken mit jeweils einem starken Führer im Zentrum geschaffen wurden. Im Norden ergriff Kim Il-sung (1912-1994) die Macht. Im Süden wurde Rhee Syngman (1875-1965) zwar mit über 90 Prozent der Stim­men zum ersten Präsidenten der Republik Korea gewählt, aber nicht in allgemeinen Wahlen, sondern nur von einer verfassungsgebenden Ver­sammlung und die Opposition hatte diese Wahl boykottiert.

11. Im Unterschied zu diesen autoritären Regimes wurden die gegenwärtigen Regierungen, von Lee Myung-bak, Präsident von 2008 bis 2013, und Park Geun-hye, amtierende Präsidentin seit 2013, durch Wahlen des Volkes legitimiert. Dennoch scheint es, als hätte sich an der Macht der starken Präsi­dentschaft seit den Zeiten Rhee Syng-mans nichts geändert. Anstatt die Ausdrucksfreiheit mit der Kraft einer Militärdiktatur zu unterdrücken, greift die Regierung zwar heute die Kunstwelt nur vereinzelt und selten direkt, aber mit umso größerer Effektivität an5. Ungeachtet der Tatsache, dass im Jahr 1995 die lokale Selbstverwaltung eingeführt wurde, neigen heute die kommunalen Regierungen zu verstärkter ›Selbstzensur‹, sobald sie die Haltung der Zentralregierung kennen.

12. Die ästhetische Form von Sewol Owol erinnert stark an die 1980er Jahre. Doch diesmal rief Hong seine alten Kollegen der »Forschungsgruppe für visuelle Medien« zusammen, ließ die Bürgerin_innen am Entstehungsprozess des Bildes teilhaben und veranstalte Feste mit Konzerten und Diskussionsrunden. Aus dem ganzen Land kamen seine früheren Schüler zusammen, um ihn beim Auftragen der Farbe zu unterstützen. Das Mittel der Kunst zur Verteidigung der Meinungsfreiheit scheint heute nicht mehr »ich allein« bzw. »nur mit meinen Kollegen« zu lauten, son­dern eher »gemeinsam mit den Bürger_innen«, »gemeinsam mit der Bevölkerung«. Denn wenn ein Kunstwerk nicht als »mein Werk« entsteht, sondern ein »Werk von uns allen« ist, dann besitzt es mehr als äs­thetische Kraft. Haben wir hier nicht die Widerstandsästhetik des Minjung für ein neues Zeitalter?

Übersetzt aus dem Koreanischen von Jonas Palussek und überarbeitet von Han Nataly Jung-Hwa


1 Der Titel des Bildes Sewol Owol spielt auf zwei historische Ereignisse an: Die Fährunglück Sewol vom 16. April 2014 mit dem Tod von 304 Passagieren vor der Westküste Südkoreas und das Massaker am 18.05.1980 in Gwangju in Südkorea. Das Wort Owol bedeutet “Mai” auf Koreanisch. Die beiden tragischen Ereignisse stehen symbolisch für die Ohnmachtsgefühle, wenn unschuldige Menschen ums Leben kommen. [Anmerkung d. Übersetzerin]

2 Hinsichtlich der Charakteristika von Hong Sung-dams Bildern beziehe ich mich auf: ›Gongdongchejeog sinmyeongui gieogtujaeng – 5•18 Gwangjuminjuhwaundong 30 junyeon ginyeomjeon <hongseongdam – huinbich geomeunmul>‹, ›Misulpyeonglonga gimjonggilui hyeonjangbipyeong – poseuteu minjungmisul syameo /rieollijum‹
(Verlag: Samchang, 2013), 269 Seiten

3 Der Begriff Minjung bezeichnet das Volk wie die Masse. Im Zuge der Demokratie-Bewegung in den 1980er Jahren wurde die Bezeichnung vor allem für die Kunst des Widerstands aus der Masse verwendet. [Anmerkung d. Übersetzerin]

4 Der Begriff ›schamanistischer Realismus‹ wurde wohl zuerst von Sokyong Hwang in seinem Roman ›Baridegi‹ im Jahr 2007 verwendet. Der Historiker Honggu Han und der Schriftsteller Haeseong Seo verwenden den Begriff in ihrer Kritik ›Schamanistischer Realismus: Sung-dam Hongs ‚Yasukuniwa Kal‹ anläßlich Hongs Ausstellung ›Die Illusion von Yasukuni‹ von 2009 (Peace Museum in Seoul). Ich habe ihren Text erst vor kurzem kennengelernt, glaube aber, dass sich meine Begriffsverwendung von dem ihren wenig unterscheidet. Ich möchte meinen tiefen Respekt für die Herren Honggu Han, Haeseong Seo und Sokyong Hwang ausdrücken, die den Begriff des ›schamanistischen Realismus‹ vorgeschlagen und dessen theoretischen Rahmen erarbeitet haben.

5 Gemeint ist hier, dass die jetzige Regierung nur noch hin und wieder ein Exempel statuieren muss, indem sie ein künstlerisches Werk als ›Pro-Nordkoreanisch‹ und ›staatsfeindlich‹ gemäß dem Nationalen Sicherheitsgesetz denunziert. Das bewirkt meist schon, dass viele Künstler oder Kunstinstitutionen in vorauseilendem Gehorsam politisch brisante Themen gar nicht erst behandeln. Angst vor gesellschaftlicher Ächtung ist ein Erbe der Zeit der strengen Militärdiktatur. [Anmerkung d. Übersetzerin]

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